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Meine Kindheit war hart. Wir lebten auf einem Einsiedlerhof. Meine Eltern arbeiteten beide bis spät in die Nacht, um den Hof zu bewirtschaften. Ich musste schon als kleiner Bub mitarbeiten, sonst hätten sie es nicht geschafft. Gelobt wurde ich, wenn ich fleißig mitgeholfen hatte. Freunde hatte ich keine; unser Gehöft lag abseits am Rande des Waldes, kilometerweit vom nächsten Dorf entfernt.

Dann wurde meine Schwester geboren, Sophie. Ich war damals 10 Jahre alt. Meine Eltern waren sichtlich überfordert mit der Pflege des Säuglings. Mein Vater nahm die Kleine nie in den Arm und meine Mutter überreichte sie mir – anfangs manchmal und dann immer mehr – nachdem sie meine Fürsorglichkeit bemerkt hatte. Sophie gluckste fröhlich vor sich hin, sobald sie – den groben ungeschickten Händen der Mutter entronnen – bei mir war. Ich liebte sie über alles, sie war meine kleine Prinzessin. Sie wurde von mir verwöhnt und bewacht. Und der Vorteil dabei war: Ich musste nicht arbeiten, wenn ich auf sie aufpasste.

Meine zweite Leidenschaft war das Laufen. Damals schon der Beste in der Schule, wollte ich immer schneller und schneller werden. Man nannte mich den „Flitzteufel“. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, denn meine Trainingsmethoden waren teuflisch. So setzte ich meine damals zweijährige Schwester auf die unseren Hof umgebende Mauer, die 1 1/2 Meter hoch war. Der Boden war gepflastert. Ich wusste, dass ein Sturz furchtbare Folgen haben konnte. Und trotzdem redete ich auf sie ein, ich beschwor sie, still sitzen zu bleiben. Dann rannte ich los. Gut 800 Meter musste ich zurücklegen, um den Hof zu umrunden. Nicht der Ehrgeiz hetzte mich, sondern die Angst, sie könnte fallen. Der Brustkorb barst mir fast, so schnell lief ich. Wenn ich dann bei ihr ankam und sie umarmte und küsste vor Erleichterung, sah sie mich mit ihren großen grauen Augen ruhig an.

Die gleichen Augen blickten auf mich, wenn ich am Berg den Kinderwagen losließ und so lange stehenblieb, bis der rollende Wagen sich drohte zu überschlagen, um dann wie ein Wahnsinniger hinterher zu stürzen und ihn im letzten Augenblick zu fassen.

Dieser Geschwindigkeitswahn setzte sich weiter fort. Noch mit 16 Jahren holte ich einen Füllfederhalter von den Schienen, als der Zug bereits einfuhr. Als ich ihn Sophie reichte, schaute sie mich wieder so eigenartig an.

Sophie vertrug sich nicht mit unseren Eltern und heiratete mit 18 Jahren, um dem Hof zu entfliehen. Sie ging ins Ausland. Damit war sie für mich verloren. Ich übernahm den Hof meiner Eltern nach deren Tod und bin mein Lebtag allein geblieben. Mit der Trennung von Sophie ließ meine Lust an der Geschwindigkeit nach. Irgendwie fehlte mir der Ansporn.

Die Jahre vergingen und ich bin alt geworden.

Gestern habe ich vom Tod meiner Schwester erfahren. Sie sollte überführt werden und ich fuhr zum Flughafen, um den Sarg in Empfang zu nehmen.

Warum ich über die Landebahn laufen wollte? Obwohl das Flugzeug eben zur Landung ansetzte?

Ich sah sie dort stehen. Mitten auf der Landebahn. Sah mich mit ihren großen Augen ruhig an. Da hat mich meine alte Leidenschaft gepackt und ich rannte los – wie früher der Flitzteufel. Sie hat mich noch einmal flitzen sehen wollen.

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