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Vollmond war wieder diese Tage.

Dann warte ich, dass er in mein Fenster scheint. Nur kurz, denn der Winkel zwischen Dächern ist klein. Ich bade mich in seinem Licht und wähne mich glücklich für einen Augenblick.

Doch das bin ich nicht, schon lange nicht mehr.

Denn bald zieht er mich eigentümlich in seinen Bann, befiehlt mir etwas, was ich nicht will. Schaut mich an mit seinem runden vollen Zyklopenauge; kalt, unbarmherzig. „Du hast auf mich gewartet“, sagt er streng, „also wirst du tun, was ich dir sage.“

Ich stehe auf und kleide mich an. Suche im Keller nach Werkzeug. Es ist jedes Mal ein anderes. Mal suche ich mit Feuereifer nach einem Kreuzschraubenschlüssel, dann wieder nach einer Kneifzange. Hammer oder Sägen sind mir zuwider. Aber ich tue das, was mir befohlen wird. Heute darf ich mir eine Schere aussuchen.

Mein alter Armeerucksack hängt am Nagel. Ich nehme ihn und verstaue mein Utensil zusammen mit einer Flasche Wasser und einer Tafel Schokolade. Ich weiß nie, wie lange ich unterwegs bin.

Ich verlasse das Haus und gehe schnellen Schrittes den Gehweg entlang Richtung Bahnhof. Es hatte nachmittags geregnet. Das Licht der Laternen spiegelt sich in den Wasserpfützen. 15 Minuten dauert der Weg. Ich laufe schneller, denn die S-Bahn fährt bald. Den Fahrplan habe ich im Kopf.

An der Haltestelle ist um 2.00 Uhr nachts meistens niemand. Als die Bahn einfährt, ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf. Meine dunklen Haare, die ich mir regelmäßig färbe, hängen über den Augen. Niemand könnte mein Alter schätzen. Ich bin schlank und trage Teeniekleidung. Niemand ahnt, dass ich 60 bin und ein Mörder.

Ich will es nicht, es wird mir befohlen. Mein Gebieter ist er da droben, der kalte Mond.

Der Wagen ist fast leer. Gut so. Zwei Jungs, so um die 20, sitzen getrennt voneinander. Schade, dass sie so jung sind, wirklich schade.

Der eine zockt am Handy und grinst blöde. Der Andere schläft. Er schaut nett aus. Hoffentlich ist es der Zocker, bete ich innerlich.

An den nächsten zwei Haltestellen steigen sie nicht aus. Ein neuer Fahrgast kommt auch nicht dazu.

Jetzt rappelt sich der mit dem Handy auf. Er schlurft zur Tür, ein Schuhpendel ist offen und er kratzt sich am Hintern. Der hat es verdient, denke ich, und folge ihm.

Als wir aussteigen, ist der Bahngleis leer. Wir sind hier am Land. Die Haltestelle ist ideal. Nach der Unterführung nur Wald. Wenn der wüsste!

Er blickt kaum auf, macht wieder an seinem Handy rum. Die Lederjacke ist abgewetzt, die Jeans zerrissen. Aber das ist ja heutzutage modern.

Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich um. Als ahne er es. Erschrocken fährt er sich durch die blonden Haare und kreuzt die Arme vor die Brust. Er hat die Schere gesehen. Direkt vor mir, wirkt er viel jünger. Er ist höchstens 17, denke ich noch bedauernd. Blindwütig stoße ich ihn in den Bauch, zwischen die Finger und in den Hals. Helles Entsetzen in seinen Kinderaugen. Er schreit nicht mal, stöhnt nur, sackt zusammen und fällt hart. Das Blut so warm in meinen Händen. Über mir klagen Krähen und bringen die Botschaft weiter zu meinem Gebieter. Ich drehe mein Schlachtopfer um, das Blut bedeckt sein Gesicht wie Schamröte. Unerwartet ertönt ein Signal. Ein Schnellzug kommt. Man könnte mich sehen von den Fenstern aus. Ich ducke mich und bedecke mein Nachtwerk, das von ihm da droben beleuchtet wird, flüchtig mit Zweigen und Grasbüscheln.

Dann atme ich tief die klare Morgenluft ein. Es wird Zeit für den Heimweg. Ich bin ein guter Läufer.

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