Eine neue Aufgabe

Natürlich war ich aufgeregt. Er hatte mir versprochen, etwas Außergewöhnliches auszuprobieren.

Es war noch früh am Morgen, als ich das Haus verließ und in den Wagen stieg. Unser Treffpunkt war der Trimm-dich-Pfad. Er stand schon da und wartete, als ich ankam.

„Du hättest dich wärmer anziehen sollen.“ Zweifelnd musterte er meine Jogginghose und die Windjacke.

„Ich dachte, wir machen Fitnesstraining.“

Er öffnete den Kofferraum von seinem Wagen, rollte eine Decke zusammen und stopfte sie in den Rucksack. Ich sah auch eine Thermoskanne und eine Brotbox darin. Er war wie immer gut vorbereitet.

„Es ist doch Sommer, zu was brauchen wir eine Decke?“

„Du redest zu viel, vertrau mir.“ Er sah mich ernst an.

Mit einmal wusste ich, dass ich mich auf ihn verlassen konnte.

„Als erstes müssen wir dich gänzlich auspowern.“ Sagte es und rannte los. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen. Aber das war noch nicht alles. Dazwischen übten wir an den Geräten des Parcours. Schon bald jammerte ich über Seitenstechen.

„Atme so, wie du es gelernt hast“, befahl er. Und ich achtete auf die Bauchatmung und es wurde leichter für mich.

Eine Übung erließ er mir, die mit den Klimmzügen an der Stange. Fasziniert beobachtete ich, wie er mühelos 20 Klimmzüge machte. Dann ging es weiter mit Dehnübungen, Balancieren, Entlanghangeln an Stangen und Ringen. Am Ende des Parcours nahm er einen Weg, der tiefer in den Wald führte.

Mit einmal hielt er inne und befahl mir, die Umgebung bis ins Kleinste wahrzunehmen.

„Darf ich mich setzen?, bat ich.

Er nickte und wir setzten uns auf einen gefällten Baumstamm. Ich strich über die glatte, grau schimmernde Rinde einer Buche. Er öffnete den Rucksack und reichte mir Trockenfleisch und heißen gewürzten Tee. Wir aßen und tranken schweigend.

„Was nimmst du wahr?“, fragte er dann.

„Vogelstimmen, auch die eines Buchfinks. Er zwitschert: „Bin ich nicht ein schöner Bräutigam?“

„Ah, ausnahmsweise in der Schule aufgepasst.“ Es schien ihn zu amüsieren.

„Ich fühle die Buchenrinde unter meinen Fingern. Es klebt auch ein wenig Harz daran. Unter meinen Schuhen das weiche Moos. Es riecht frisch nach Tannennadeln.“

„Leg dich auf die Decke“, forderte er mich auf.

Er half mir dabei und deckte mich mit der anderen Hälfte zu.

„Schließ die Augen.“

Ich tat es und nahm mit einmal die Umgebung durchdringend wahr. Die Vogelstimmen wurden lauter; ich hörte Zweige knacken und sogar Tautropfen meinte ich fallen zu hören. Ich roch seinen Schweiß, die feuchte Erde und das modrige Moos.

„Du wirst heute fliegen“, prophezeite er.

„Wie das ohne Flügel?“

„Dazu brauchst du keine Flügel.“ Lass dich fallen.

„Ich dachte, zum Fliegen muss man abheben.“

„Psst“, tadelte er. Lachte aber leise dabei.

Ich sammelte mich und achtete auf die Bauchatmung. Sanft strich er mir über die Stirn und berührte mein Sonnengeflecht am Brustbein. Ich nannte die Stelle „mein Seelchen.“ Sie begann warm zu werden und dann strahlte die Hitze nach allen Seiten aus. In meinen Ohren begann es zu summen.

Plötzlich war es mir, als würde ich aus meinem Körper entweichen. Ließ ihn starr zurück. Ganz leicht war mir zumute. Ein Sog erfasste mich und trug mich hoch.

Unwillkürlich streckte ich die Arme aus und endlich getraute ich mich auch, die Augen zu öffnen. Ich schwebte über den Bäumen und konnte sogar die Geschwindigkeit beeinflussen. Ich schrie vor Begeisterung, doch kein Laut kam aus meinem Mund. Unter mir sah ich jetzt Häuser und winzige Menschen. Ich winkte ihnen zu, aber sie schienen mich nicht wahrzunehmen. Ich flog, bahnte Kurven in der Luft, überquerte Hügel und Seen. Ein unsagbares Glücksgefühl durchströmte mich fortwährend.

Auf einmal wurde ich unsanft zurück gerissen. Wieder erfasste mich ein starker Sog und ich landete hart in meinem Körper. Meine Knochen schmerzten und mir war übel.

Er hob meinen Kopf und flößte mir heißen Tee ein.

„Kann ich das auch allein?“, fragte ich erschöpft.

„Du wirst es lernen“, versicherte er mir. „Aber du musst aufpassen, dass niemand währenddessen deinen Körper findet, ihn verrutscht oder schlimmstenfalls wegbringt. Du würdest nicht mehr zurückfinden.

„Danke fürs Aufpassen“, flüsterte ich und er lächelte , wie so oft, wenn ich etwas sagte.

Der schlaflose Priester

Diesmal würde er sie finden. Es ging gar nicht anders. Er hatte den Rottweiler dabei, den Spürhund des Klosters. Die und eine Nonne? Dass er nicht lachte. Allein die Tanzschuhe, die sie trug, zeugten von einer gewissen Eitelkeit. Sie unterschieden sich von dem vernünftigen Schuhwerk der anderen Nonnen. Auch ließ sie immer – wie unabsichtlich – ihre roten zerzausten Haare unter dem Schleier hervor spitzen. Den Brüdern gingen schon die Augen über bei der Messe und die beiden jüngsten grimassierten unflätig. Nur die Messe durften Priester und Nonnen gemeinsam besuchen. Wenn es nach ihm ginge, müsste auch das verboten werden.

Der Köter hatte anscheinend eine Fährte aufgenommen und zog voller Kraft an der Leine. Er kam kaum hinterher. Seine Soutane flatterte durch den starken Gegenwind und behinderte ihn beim Laufen. Er strich sich über den schweißnassen Nacken und gebot dem Hund Einhalt. Da war es zu hören. Ein wüstes Gekreische und wildes Wiehern. Er hob den Kopf und sah sie auf ihren Besen, an die 20 liebestolle Hexen, die sich im Kreis um das Walpurgisfeuer drehten. Hoch in die Lüfte und fast im Sturzflug bis runter zum Feuer. Der Hund winselte jämmerlich. Er band ihn fest, um sich ungesehen näher heran pirschen zu können. Vor dem Grashügel legte er sich bäuchlings hin und robbte langsam nach oben. Seine Hände stachen sich an Disteln und er schimpfte leise vor sich hin.

Oben angekommen, versteckte er sich hinter einem Busch und besah sich die Hexenkunst. Ein haushohes Feuer loderte zum Himmel. Unten bruzzelte eine Sau am Spieß. Oder war`s am Ende gar ein Kindskörper? Sein Magen begann zu knurren und betroffen schleuderte er seine Hand gegen eine Distel. Angewidert verfolgte er die Zauberei und konnte doch den Blick nicht wenden. Mit wehenden Haaren und nackten Beinen saßen die Teufelsweiber auf ihren Besen. Mit der einen Hand den Stiel festhaltend, johlten sie laut auf und hoben die andere Hand gen Himmel. Uralte Geschöpfe mit Hakennasen und schrundigen Glatzen. Aber auch junge mit langen flatternden Haaren. Darunter musste sie sein. Es dauerte bis er sie fand. Sie flogen erstaunlich schnell.

Die jüngste war sie mit rotem Haarschopf und weißen Schenkeln. Ihr Gesicht vom Mond beschienen und entrückt, erschien ihm überirdisch schön. Er spürte ein Ziehen in den Lenden und hasste sie und sich dafür. Schon morgen würde er eine Depesche schicken. Die Inquisition würde den sündigen Körper vernichten und ihn wieder ruhig schlafen lassen.