Das Käuzchen

Sie schleppte sich die Stufen hoch. Im zweiten Stock begann sie schwer zu atmen, im dritten japste sie. Verena hielt sich am Holzkopf des Treppengeländers fest. Sie fuhr sich durch die öligen schwarzen Haare. Wann hatte sie das letzte Mal Haare gewaschen? Dann blickte sie auf ihre stacheligen Beine. Und wann das letzte Mal die Beine rasiert?

Im 3. Stock schloss sie ihre Wohnungstür auf und setzte die Einkaufstüte ab. Die Flaschen klapperten. Sie roch den Mief der ungelüfteten Wohnung und ihren eigenen säuerlichen Schweiß. Sie versprühte Zitronenraumspray und hustete. Duftöl konnte sie sich schon lange nicht mehr leisten.

Verena holte sich aus dem Kühlschrank eine Gurke und säbelte ein Stück ab. Nur nicht nüchtern trinken! Die Gurke war aufgeweicht und schmeckte eklig. Sie blickte in den kleinen Wandspiegel und höhnte bissig: „Was ist nur aus dir geworden?“ Hohle Wangen, viele Falten und ein Mund, der sie an ihre Großmutter erinnerte, wenn sie kein Gebiss getragen hatte. Abgestoßen wandte sie sich ab.

Ihr Herz war ein Eisklumpen. Schon lange nicht mehr empfänglich für Schönes, Weiches, Zartes. So wie das Käuzchen, das sie neulich nachts im Baum entdeckt hatte. Seltsam berührt war sie gewesen, als das Käuzchen sie regungslos anblickte und schließlich davonflog.

Verena öffnete das Fenster. Durch den Regen war die Abendluft frisch und sie atmete tief ein. „Wenn es noch einmal kommt, hör ich auf mit der Sauferei.“ Nach langem Warten schloss sie hoffnungslos das Fenster und lief zu den Flaschen.

Mitten in der Nacht wachte sie auf. Eine seltsame Unruhe erfasste sie und sie öffnete das Fenster. Das Käuzchen saß auf einem Ast ganz nah bei ihr. Es blickte sie ruhig an. Die gelben Augen hoben sich ab vom nachtschwarzen Himmel.

„Danke, dass du zurückgekommen bist“, flüsterte sie.